Am 01.01.2018 ist es soweit – die 2. Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) tritt in Kraft, die mit dem „neuen“ SGB IX insbesondere den Teil 1 und damit die das für alle Rehabilitationsträger geltende Teilhabe- und Verfahrensrecht in wichtigen Punkten ändert. Hier eine Kurzübersicht über die Neuerungen:
- Neue Erstfassung des SGB IX
- Neuer Behindertenbegriff
- Ausweitung der Leistungsgruppen
- Einführung neuer Beratungsstrukturen
- Verschärfung der Verbindlichkeit bei der Zuständigkeit
- Einführung eines einheitlichen Instruments zur Bedarfserkennung und Bedarfsermittlung
- Einführung eines neuen Verfahrens zur Koordinierung der Leistungen
Aufbau des neuen SGB IX
Inhalt von Artikel 1 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist eine Neustrukturierung des SGB IX, die grundsätzlich am 1. Januar 2018 in Kraft tritt:
- Teil 1 fasst das für alle Rehabilitationsträger geltende Recht der Rehabilitation und Teilhabe zusammen.
- In Teil 2 wird die aus dem SGB XII herausgelöste und grundlegend reformierte Eingliederungshilfe geregelt – dieser Teil 2 tritt erst am 1. Januar 2020 in Kraft; bis dahin bleibt die Eingliederungshilfe in den §§ 53 ff. SGB XII geregelt. Ausnahme mit Inkrafttreten bereits am 1. Januar 2018: § 94 Abs. 1 SGB IX sowie das neue Vertragsrecht in Kapitel 8.
- Teil 3 enthält dann das Schwerbehindertenrecht
Neuer Behindertenbegriff
„Menschen mit Behinderung sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleich- berechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“ – so der Wortlaut von § 2 SGB IX n. F.
Mit der an die UN-Behindertenrechtskonvention angepassten Neudefinition kommt zum Ausdruck, dass sich die Behinderung erst durch die gestörte oder nicht entwickelte Interaktion zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt manifestiert. Neben den wie bisher schon notwendigen Voraussetzungen
- körperliche (eigens aufgeführt nun auch Sinnbeeinträchtigungen), seelische, geistige Beeinträchtigungen,
- die untypisch für das Alter sind und
- länger als sechs Monate andauern
muss nun auch noch
- die Wechselwirkung der Person und Umwelt
betrachtet werden.
Ausweitung der Leistungsgruppen
§ 5 SGB IX n. F. enthält wie bisher die Leistungsgruppen. Diese werden ausgeweitet bzw. konkretisiert. Als Leistungsgruppen werden genannt:
- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (unverändert)
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (ausgeweitet)
- Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (unverändert)
- Leistungen zur Teilhabe an Bildung (neu)
- Leistungen zur sozialen Teilhabe (umbenannt und konkretisiert)
Während die medizinische Rehabilitation und die unterhaltssichernden Leistungen unverändert bleiben, wurden die möglichen Leistungen zur Teilhabe zur Arbeit (§§ 49-63 SGB IX n. F.) erweitert:
Für Menschen mit Behinderungen wird die Möglichkeit eröffnet, entweder in einer Werkstätte für behinderte Menschen (WfbM) oder bei einem „anderen Leistungsanbieter“ zu arbeiten oder eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufzunehmen.
Darüber hinaus sollen Arbeitgeber, die bereit sind, dauerhaft vollerwerbsgeminderte Menschen, die Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer WfbM haben, zu beschäftigen, künftig durch ein „Budget für Arbeit“ unterstützt werden. Mit diesem Budget kann ein unbefristeter Lohnkostenzuschuss zum Ausgleich der dauerhaften Minderleistung des behinderten Beschäftigten und eine im Einzelfall notwendige Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz finanziert werden.
Neu eingeführt wird die Leistungsgruppe „Teilhabe zur Bildung (§ 75 SGB IX n. F.). Sie gilt für alle Rehabilitationsträger (nicht mehr nur wie bisher für Sozialhilfe- bzw. Eingliederungshilfeträger) und beinhaltet kommunikative, technische oder andere Hilfsmittel. Insbesondere für Menschen mit Behinderungen im Studium erhofft sich der Gesetzgeber dadurch künftig deutliche Verbesserungen bzw. Konkretisierungen der Leistungsansprüche.
Die bisherige Leistungsgruppe „Leistungen zur Teilhabe in Gemeinschaft“ wird umbenannt in „Leistungen zur sozialen Teilhabe“ und ausführlich in den §§ 76 bis 84 SGB IX n. F. geregelt. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe sollen erbracht werden, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Hierzu gehören insbesondere Leistungen für Wohnraum, Assistenzleistungen, heilpädagogische Leistungen, Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie, Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fertigkeiten, Leistungen zur Förderung der Verständigung, Leistungen zur Mobilität und Hilfsmittel. Dies entspricht dem bisherigen Leistungskatalog; insbesondere die Assistenzleistungen und Leistungen zur Mobilität werden nun aber erstmals im Gesetz beschrieben.
Einführung neuer Beratungsstrukturen
Gemeinsame Servicestellen gibt es künftig nicht mehr – sie werden (auch wegen bisheriger Erfolglosigkeit) bis spätestens 31. Dezember 2018 abgeschafft. Stattdessen soll es Ansprechstellen geben (§ 12 Abs. 1 Satz 3 SGB IX n. F.). Diese müssen von den Rehabilitationsträgern konkret benannt werden und haben die Aufgabe über Inhalte, Ziele und Verfahren zu Leistungen zur Teilhabe beraten sowie über das Persönliche Budget und andere Beratungsangebote zu informieren.
Neu eingeführt wird zudem eine „ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ (§ 32 Abs.1 SGB n. F.). Dieses Angebot besteht neben dem Anspruch auf Beratung durch die Rehabilitationsträger und soll bereits im Vorfeld der Beantragung konkreter Leistungen zur Verfügung stehen.
Zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohten Menschen fördert der Bund diese von den Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratungsform mit jährlich 58 Millionen Euro über fünf Jahre. Das Peer-to-Peer Counseling (Betroffene beraten Betroffene) wird bei der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung dabei besonders berücksichtigt.
Verschärfung der Verbindlichkeit bei Zuständigkeit und Koordinierung
Auch künftig wird es kein einheitliches Rehabilitationsrecht für Menschen mit Behinderungen geben. Es bleibt bei der Vielzahl von Rehabilitationsträgern (sog. gegliedertes System). Um dennoch eine angemessene Koordination, Kooperation und Konvergenz herzustellen, soll das neue SGB IX im Teil 1 die Rehabilitationsträger auf gemeinsame Ziele und Instrumente verpflichten.
Während es bisher in § 7 hieß „Das SGB IX ist verpflichtend, solange die jeweiligen Leistungsgesetze nichts anderes regeln“, sieht § 7 Abs. 2 SGB IX n. F. vor, dass die Kapitel 2 bis 4 den jeweiligen Leistungsgesetzen immer vorgehen. Davon darf auch durch Landesrecht nicht abgewichen werden.
Für alle Rehabilitationsträger gelten daher die Regelungen für
- die Bedarfserkennung und Bedarfsermittlung,
- die Zuständigkeitsklärung und
- das Teilhabeplanverfahren
ab 01.01.2018 bundeseinheitlich und zwingend.
Einführung eines einheitlichen Instruments zur Bedarfserkennung und Bedarfsermittlung
Mit § 13 SGB IX n. F. werden erstmals Vorgaben für die anzuwendenden Instrumente zur Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs gemacht. Zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des Bedarfs müssen die Rehabilitationsträger bundesweit einheitliche Instrumente anwenden, die auf einheitlichen trägerübergreifenden Grundsätzen beruhen und ein verbindliches und effektives Teilhabeplanverfahren ermöglichen.
Die noch zu entwickelnden Instrumente können sein:
- systematische Arbeitsprozesse (z. B. Erhebungen, Analysen und Dokumentationen) und/oder
- standardisierte Arbeitsmittel (z. B. funktionelle Prüfungen wie etwa Sehtest, Intelligenztest, Hörtest, Fragebögen und IT-Anwendungen).
Sie müssen noch in einer Gemeinsamen Empfehlung durch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation vereinbart werden. Ob diese bis zum Jahreswechsel 2017/2018 vorliegt, wird sich zeigen.
Einführung eines neuen Verfahrens zur Koordinierung der Leistungen
Die Zusammenarbeit der Reha-Träger wird straffer geregelt: Leistungen „wie aus einer Hand“ sollen auch bei trägerübergreifenden Fallkonstellationen der Regelfall sein. Künftig reicht ein Reha-Antrag aus, um alle benötigten Leistungen von verschiedenen Reha-Trägern zu erhalten.
Dazu wurden die Regelungen im bisherigen § 14 SGB IX weiterentwickelt und in den neuen §§ 14-18 SGB IX n. F. niedergelegt:
Eine Schlüsselposition kommt ab 01.01.2018 dem „leistenden Rehabilitationsträger“ zu, der für die Koordination der Leistungen und gegenüber dem Antragsteller verantwortlich ist. Wenn weitere Rehabilitationsträger zum Teil zuständig sind, muss der leistende Rehabilitationsträger sie nun einbeziehen und ein verbindliches Teilhabeplanverfahren (§§ 19-23 SGB IX n. F.) durchführen. Er muss dann leisten, wenn sich die anderen Träger – obwohl zuständig – nicht einbringen.
Wer leistender Rehabilitationsträger ist, bestimmt sich künftig nach den §§ 14, 15 SGB IX n. F. Schon nach derzeitiger Rechtslage ist der erst- oder zweitangegangene Rehabilitationsträger nach allen in Betracht kommenden Leistungsgesetzen für die Bedarfsfeststellung und Leistungserbringung zuständig. Dieses Zuständigkeitsverfahren bleibt so beibehalten:
- Wenn der erstangegangene Träger für die gesamte beantragte Leistung zuständig ist, wird er zwei Wochen nach Antragseingang zum leistenden Rehabilitationsträger.
- Ist er insgesamt nicht zuständig, leitet er den Antrag innerhalb von zwei Wochen an einen zweiten Träger weiter, der bei Zuständigkeit zum leistenden Rehabilitationsträger wird.
Neu ist, dass nun auch ein dritter Rehabilitationsträger eingeschaltet werden kann: Ist auch der zweite Rehabilitationsträger insgesamt nicht zuständig, kann er den Antrag in Absprache an einen dritten Rehabilitationsträger weiterleiten. Damit wird dieser – auch bei Nichtzuständigkeit – leistender Rehabilitationsträger. Über den Antrag ist dann innerhalb einer Drei-Wochen-Frist zu entscheiden; Fristbeginn ist dabei der Antragseingang beim zweiten Reha-Träger. Eine Fristverlängerung ist daher ausgeschlossen (§ 14 Abs. 3 SGB IX n. F.).
Neu ist auch, dass jeder Reha-Träger den Antragsteller informieren muss, wenn er einen Antrag weiterleitet.
Zudem besteht mit dem neuen Recht die Möglichkeit, dass der leistende Rehabilitations-Träger den Antrag „splitten“ kann. Er kann den Antrag also auch nur teilweise weiterzuleiten, wenn er für einen Teil der erforderlichen Leistungen nicht Träger sein kann (z. B. Gesetzliche Rentenversicherung für Leistungen der sozialen Teilhabe).
Der leistende Rehabilitationsträger ist ab 01.01.2018 auch zuständig für die Einleitung und Durchführung eines Teilhabeplanverfahrens (§ 19 SGG IX n. F.), soweit Leistungen verschiedener Leistungsgruppen oder mehrerer Rehabilitationsträger erforderlich sind. Bei komplexen Leistungsfällen soll zudem eine Teilhabeplankonferenz durchgeführt werden.
Eine Zusammenfassung von Barbara Bayer, Rechtsanwältin und Programmleitung Gesundheit & Soziales im Walhalla Fachverlag.