Biophile Architektur: Heilsame Räume schaffen – Zukunftstrend im Pflegeheimbau?

Ein Gastbeitrag von Arch. Ing. Mag. arch. Andreas Wörndl, MAS

Liebe zum Leben und allem Lebendigen

Biophilie meint die „Liebe zum Leben und allem Lebendigen und unser Bedürfnis nach Berührung mit der Natur“. Dieser Begriff wurde erstmals 1964 vom Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm verwendet. Durch den Soziobiologen Edward O. Wilson wird Biophilie Mitte der 1980er Jahre bekannt. Mit der Hypothese „Menschen haben ein ererbtes Bedürfnis sich mit der Natur zu verbinden“ erläutert Wilson die evolutionsbiologisch begründete Verbindung zwischen Mensch und Natur. Stephen R. Kellert, Yale-Professor und Pionier der Biophilie, fokussiert jene Aspekte, „die zur menschlichen Gesundheit und ihrem Überlebenskampf beitragen“.

Biophiles Design ist ein Gesamtkonzept des Wohlbefindens

Mit Biophilic Design meinen wir einen Ansatz in der Gestaltung, der die Natur und Elemente aus der Natur in die gebaute Umgebung miteinbezieht. Die damit erzeugten Stimmungsbilder fördern das Wohlbefinden der Menschen, ihre Kreativität, steigern Leistungsfähigkeit, Motivation und Konzentration und setzen Heilungsprozesse in Gang. In unseren technologisch und funktional geprägten Lebensräumen vermissen wir zunehmend die Verbindung zur Natur. Abseits unserer glatten und sterilen Hochglanzwelt entwickeln wir eine Sehnsucht nach Nachhaltigkeit und Natürlichkeit. Biophiles Design ist eine Reaktion auf Industrialisierung, Technologisierung, Digitalisierung und Urbanisierung, die Stresssituationen, Erschöpfung und Verluste hervorrufen und unser Wohlbefinden, Immunsystem und letztendlich unsere Gesundheit beeinflussen.

Biophile Architektur ist das Einbeziehen der Natur in die gebaute Umgebung

Als innovatives Konzept schafft Biophile Architektur eine natürliche und naturnahe Lebensumgebung, in der wir leben, arbeiten und interagieren, in der wir Erinnerungen mit Emotionen verbinden und Gemütszustände hervorrufen können, die wir mit Erlebnissen in der Natur verbinden. Umfassendes Wohlbefinden können wir durch die Verwendung natürlicher Materialen, organischer Formen und Muster sowie den Einsatz neuer Gebäudetechnologien erreichen. Die Sehnsucht nach naturbelassenen Oberflächen sowie der Anspruch unserer Sinne mit der Natur in Kontakt zu treten erfordert neue Interpretationsspielräume an eine menschengerechte Lebensraumgestaltung.

Die Muster des Biophilen Designs

Die Kategorien des Biophilen Designs nach Terrapin Bright Green, 2014

Das Nachhaltigkeitsbüro Terrapin Bright Green entwickelte 2014 Gestaltungsrichtlinien, die auf unterschiedlichen Ebenen eine Beziehung zwischen Mensch, Natur und Raum beschreiben. Die „14 Patterns of Biophilic Design“ gliedern sich in drei Kategorien, denen jeweils mehrere Muster zugeordnet sind.

 

Natur im Raum

Diese Kategorie beschreibt die direkte, physische und flüchtige Präsenz der Natur in einem Raum oder an einem Ort. Der Naturbezug zeigt sich in Form von Vegetation, Wasser, Tieren, Wetter, Jahreszeiten, Licht, usw. Visuelle Verbindungen zur Natur wie der freie Blick in die Landschaft schaffen Aufmerksamkeit, wirken aktivierend und stärken die Sensibilität für das Wetter und die Jahreszeiten. Begrünte Wände in Innenräumen, fensternahe Arbeitsplätze oder eine durchdachte Anordnung von Pflegebetten führen zu Kontakten mit der Natur. Zu den Nicht-visuellen Verbindungen zählen außer dem Sehen alle anderen Sinne, die durch geeignete Interventionen (z. B. Gerüche, Geräusche) positive Bezüge zur Natur herstellen. Unregelmäßige sinnliche Reize sind zufällige vorübergehende Verbindungen mit der Natur (z. B. vorbeifliegende Vögel), die ein Gefühl erzeugen mit etwas Frischen, Stimulierenden und Aktivierenden konfrontiert zu sein. Variable Temperatur- und Luftverhältnisse, das Auftreten von Wasser sowie dynamisches und diffuses Licht verleihen Frische und Lebendigkeit, sind faszinierend und kraftvoll zugleich. Mit der Verbindung zu natürlichen Systemen schaffen wir das Bewusstsein für die sich ständig verändernde Natur. Mit räumlichen Bezügen zu Innenhöfen, zu Pflanzen, die wachsen, blühen und verdorren, erleben wir den Kreislauf der Natur.

Beispiele:

Verbindung mit natürlichen Systemen: Innenhof im Hospizhaus Tirol

Visuelle Verbindung zur Natur: Begrünte Wand im NÖ Pflege- und Betreuungszentrum Tulln

Verbindung mit natürlichen Systemen: Innenhof im Demenzdorf De Hogeweyk in Weesp, NL

 

 

 

 

Verbindung mit natürlichen Systemen: Innenhof im Demenzdorf De Hogeweyk in Weesp, NL

 

 

Naturanalogien

Kategorie zwei beschreibt Analogien zur Natur und meint damit organische, nicht lebende und indirekte Verbindungen zu natürlichen Systemen, die wir durch Materialien, Farben und Muster, die wir in der Natur vorfinden, in Möbel, Ornamente und Textilien transformieren und in die gebaute Umgebung integrieren. Biomorphe Formen und Muster sind Zitate der Natur auf Umrisse, Muster oder Strukturen. Materialien mit Ortsbezug lassen den Charakter des Ortes erkennen. Komplexität und Ordnung orientieren sich an gehaltvollen sensorischen Informationen, die sich auf räumliche Hierarchien aus der Natur beziehen. Verdichtete Informationen wie sich wiederholende Formen auf Teppichen und Tapeten sowie reliefartige Strukturen auf Oberflächen wirken einnehmend und informativ.

Beispiele

Biomorphe Formen und Muster: Florale Relieftapete im Haus der Barmherzigkeit Poysdorf

Komplexität und Ordnung: Tapete im Bezirksalten- und Pflegeheim Gaspoltshofen

Biomorphe Formen und Muster: Sichtbeton mit Holzmaserung im NÖ Pflege- und Betreuungszentrum Hainfeld

Material mit Bezug zum Ort: Fassade des NÖ Pflege- und Betreuungszentrums Türnitz

Natur des Raums

Aussicht, Rückzug, Geheimnis und Risiko sind Erlebnisse, die sich auf Grundbedürfnisse des Menschen zurückführen lassen und durch räumliche Interventionen zum Ausdruck gebracht werden können. Aussicht schafft Übersicht, Weite ein Gefühl von Freiheit. Transparente Materialien, erhöhte Ebenen und offene Grundrisse unterstützen die Sehnsucht nach Planbarkeit und Sicherheit. Rückzug und Zuflucht ist ebenso ein erworbenes Bedürfnis wie Aussicht. Wir unterscheiden Flucht aus der physischen Umgebung und Flucht aus dem Alltag. Raumbildende Elemente wie Sitznischen, Arkaden, Erker usw. schaffen modulare oder partielle Zufluchtsmöglichkeiten. Mit Geheimnissen erzeugen wir Gefühle nach Erwartung und Entdeckung, nach Impulsen und Informationen. Mit versteckten Ausblicken oder verschlungenen Wegeführungen versprechen wir die Sicht auf Neues. Menschen lieben das Risiko und die Gefahr. In Verbindung mit einem zuverlässigen Schutz können verglaste Aussichtsplattformen, schmale Stege oder Bilder von gefährlichen Tieren eine unwiderstehliche Bedrohung transportieren.

Beispiele

Rückzug und Aussicht: Sitznischen im NÖ Pflege- und Betreuungszentrum Wolkersdorf

Aussichtsbalkone und verschlungene Wege im Pflegewohnhaus Meidling

Nischensitze für Rückzug und Aussicht

Rückzug und Aussicht: Nischensitze im NÖ Pflege- und Betreuungszentrum Scheiblingkirchen

Biophile Architektur schafft heilsame Räume

Biophile Gestaltung prägt immer öfter unsere Umwelt. Hotelanlagen, Bars und Restaurants sowie die Gestaltung neuer Arbeitswelten nutzen das Potenzial, die Verbundenheit zur Natur und das Gefühl für Natürliches in Gebautes zu integrieren. Gerade der Gesundheits- und Pflegebereich bietet ein Umfeld, in dem der Bezug zur Natur eine hohe Wirksamkeit entfalten kann. Die Herausforderung Demenz, die wir in der stationären Altenhilfe erwarten, die steigende Lebenserwartung im Allgemeinen sowie gesundheitspolitische Entscheidungen hinsichtlich Vorsorge und Prävention erfordern nicht nur technische und funktionale Rahmenbedingungen, sondern ein Lebensumfeld, das den Aufenthalt zu einem positiven Erlebnis macht. Menschen brauchen eine heilsame und harmonische Umgebung. Nutzen wir die Ressource Natur und gestalten Räume, die jedem einzelnen Menschen wie auch der Gesellschaft gerecht werden.

Portrait-Andreas-Woerndl

 

Arch. Ing. Mag. arch. Andreas Wörndl, MAS studierte Architektur an der Akademie der Bildenden Künste Wien und Management sozialer Innovationen an der Akademie für Sozialmanagement in Wien. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Entwicklung, Planung und Umsetzung von Bauten im Sozial- und Gesundheitswesen. Neben seiner Tätigkeit als Leiter der Projektentwicklung in der Abteilung Landeshochbau beim Amt der NÖ Landesregierung unterrichtet er als Lehrbeauftragter an der FH Campus Wien sowie an der Donau-Universität Krems.

 

 

 

Mehr zum Thema der räumlichen Konfliktprävention in der stationären Altenhilfe können Sie im Buch “Gestaltungsprinzipien für soziale Handlungsräume” von Andreas Wörndl lesen.


Quellen:

Brichetti, K., & Mechsner, F. (2019). Heilsame Architektur. Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen. Bielefeld: transcript Verlag.

https://www.terrapinbrightgreen.com/reports/14-patterns/

https://www.interface.com/EU/de-DE/campaign/biophilic-design/14-Patterns-of-Biophilic-Design-de_DE