Das Territoriale Lebensraum Modell Schaubild

Das Territoriale Lebensraum-Modell – Soziale Handlungsräume in der stationären Altenhilfe

In diesem Gastbeitrag erläutert Arch. Ing. Mag. arch. Andreas Wörndl, MAS, das Territoriale Lebensraum-Modell.Das Territoriale Lebensraum Modell Schaubild

Soziale Handlungen brauchen konkrete Räume

Soziale Interaktionen erfolgen in unterschiedlichen räumlichen Szenarien. Die individualisierte und immer älter werdende Gesellschaft verlangt nach räumlichen Lösungen, die auf einer selbstbestimmten Lebensführung basieren und die Umweltkompetenzen der Menschen erhalten und unterstützten.
Um den vielfältigen Lebensstilen gerecht zu werden, nutzen wir unser Umfeld nach Belieben, sind privat oder in Gesellschaft, ändern unser Verhalten und Aussehen und beziehen uns dabei auf konkrete Orte, an denen wir unser Zusammenleben organisieren.
Diese Kompetenzen wollen wir auch dann weiter erhalten, wenn unser Handeln durch physische, psychische und kognitive Defizite eingeschränkt wird. Die Möglichkeit, frei darüber zu entscheiden, wann, wo, und in welchem Umfeld soziale Kontakte gestaltet werden, ist insbesondere im Kontext institutioneller Lebensräume zu gewährleisten.
Dieses Umfeld ist so zu gestalten, dass differenzierte Handlungsräume sichtbar werden in denen PRIVATHEIT gelebt, GEMEINSCHAFT gefördert, BEGEGNUNG ermöglicht und GESELLSCHAFT erlebt werden kann – erst dann werden wir dem Menschen gerecht.

Das Territoriale Lebensraum-Modell

Das Territoriale Lebensraum-Modell ist ein Beitrag zur Gestaltung institutioneller Lebensräume. Es beschreibt soziale Handlungsräume, die in Verbindung mit einer geschützten räumlich materiellen Umgebung selbstbestimmtes Handeln unterstützen.
Das Modell basiert auf der wechselseitigen Beziehung zwischen Mensch und Raum (Bollnow, 2010), Kleinteiligkeit und Normalität (Kaiser, 2012), Grundlagen der Territorialtypologien der 1970er Jahre (Altman, 1970, Lyman & Scott, 1967), sozialen Distanzzonen (Hall, 1966, 1976), Erkenntnissen über Dichte und Beengtheit (Schultz-Gambard, 1990) und räumlichen Vorstellungen, die auf Emotionen und Erinnerungen aufbauen und Raumbedürfnisse definieren (Zumthor, 1999; Feddersen, 2014), die erst durch konkretisierte Gemütszustände fassbar gemacht werden können.

Daraus entsteht ein räumliches Umfeld, das

  • den Wert der Privatheit bewahrt,
  • durch häusliche Atmosphäre und kleinteilige Raumstrukturen einen Maßstab familienähnlicher Gemeinschaften definiert,
  • mit flexiblen Raumstrukturen ein räumliches Entlastungsangebot schafft und Begegnungen ermöglicht und
  • durch Kooperationen und öffentliche Einrichtungen gesellschaftliche Ereignisse erlebbar macht.

Lebensraum für ein Optimum an Privatheit – Der individuell kontrollierte Raum

Privatheit

Privatheit steht im ständigen Spannungsfeld zwischen „für sich allein sein“ und „mit anderen gemeinsam sein“, zwischen Kontrolle und der Beschränkung über den Zugang zum privaten Raum. Erst der Zustand des „privatsein Könnens“ schafft die Bereitschaft für soziale Interaktionen. Der private Raum ist in Verbindung mit der Gestaltungfähigkeit des Menschen ein Abbild individueller Vorstellungen, Ausdruck der persönlichen Identität und ein Ort für selbstbestimmtes Handeln. Er schafft einen geschützten Rahmen für emotionale Stabilität, persönlichen Rückzug und Intimität. Die Heterogenität der Individuen, die Erlebnisse sowie die Erinnerungen daran erfordern eine physische Umgebung – also einen konkreten Raum, in dem ein optimaler Privatheitszustand erreicht werden kann.

Dieses Umfeld – in dem Privatheit Wirklichkeit werden kann – muss im Kontext institutioneller Lebensräume gewährleistet sein. Dabei steht in Abhängigkeit eines respektvollen Umgangs miteinander das „ICH – frei sein in Entscheidungen“ im Mittelpunkt des Zusammenlebens. Den Rahmen dafür bildet das primäre Territorium. Die Voraussetzungen für das Erreichen eines optimalen Privatheitszustandes sind klare territoriale Abgrenzungen, ständige Kontrollmöglichkeiten und Beschränkungen über die Zugänglichkeit dieses individuell definierten Bereiches. Als Sonderform innerhalb des primären Territoriums definiert das Körperterritorium ein Umfeld, das sich bei hohem Pflegebedarf auf den „Lebensraum Bett“ reduziert. Im Rahmen von Pflegehandlungen ruft diese Situation eine besonders sensible und unter Umständen konfliktbehaftete Interaktion zwischen den beteiligten Personen hervor.

Lebensraum für familienähnliche Gemeinschaften – Der gemeinschaftlich geteilte Raum

Gemeinschaft

Kleinteilige Raumstrukturen vermitteln ein vertrautes häusliches Umfeld. Diese Aussage basiert auf der Vorstellung des Wohnens. Das Wohnen reduziert sich nicht nur auf einen konkreten Ort, sondern bedarf der Verwurzelung und des Hingehörens. Es ist keine beliebige Tätigkeit, zeigt das Verhältnis des Menschen zur Welt und führt zur individuellen Wesensbestimmung. Das Leben in familienähnlichen Gemeinschaften stellt das „DU – gemeinsame Verantwortung“ in das Zentrum der Alltagsgestaltung.

Der Erhalt der Wohn- und Lebensqualität sowie ein bedarfs- und altersgerechter Rahmen bilden die Voraussetzungen für die Entwicklung bedeutungsvoller Beziehungen in einer häuslichen Umgebung, die durch Kleinteiligkeit Schutz, Sicherheit und Orientierung gewährt. Der gemeinsam genutzte Raum bietet Anreize für soziale Kontakte und schafft ein Dichteverhältnis, das sich an familiären Strukturen orientiert. Die Voraussetzungen für gemeinschaftliches Wohnen sind klare territoriale Abgrenzungen, die beispielsweise im Rahmen von Besuchen und Kontakten kontrolliert und geplant zugänglich gemacht werden. Im Kontext angemessener Dichteverhältnisse und kleinteiliger Raumstrukturen beschreiben private und gemeinschaftliche Handlungsräume das primäre Territorium einer Wohngruppe, eines Wohnbereiches oder anderer Wohnmodelle.

Lebensraum für Beziehungsaufbau und Aktivierung – Der Raum als Übergang

Begegnung

Dieser Handlungsraum schafft im sekundären Territorium einen Übergang zwischen privaten und öffentlichen Funktionen. Als Schwellenraum für Handlungsalternativen steht dieser Ort nicht nur für ein räumliches Entlastungsangebot, sondern auch für soziale Interaktionen, Begegnungen und Beziehungsaufbau zwischen den Menschen innerhalb der Institution und Personen aus dem sozialen Umfeld. Dabei steht das „DU in partnerschaftlicher Beziehung zum WIR“. Diese Raumzone fungiert als halböffentlicher Begegnungsort außerhalb des primären Territoriums und bietet eine Bühne für Erlebnisse. Anreize für Aktivitäten und gemeinsames Gestalten ergänzen das Angebot genauso wie Stimmungsbilder regionaler Lebensstile und Milieus, die im Rahmen der Tagesgestaltung aktivierende Signale setzten. Voraussetzungen dafür sind klare territoriale Abgrenzungen, die im Rahmen organisierter Kontakte öffentlich zugänglich und nutzbar gemacht werden. Die Nutzung dieses Angebotes erfordert Kontrolle, zeitliche Begrenzung und die Einhaltung sozialer Regeln.

Lebensraum für Teilhabe und sozialen Austausch – Der Raum für gesellschaftliche Ereignisse

Gesellschaft

Der öffentlich genutzte Raum ist partizipativ gestaltet und bietet ein Umfeld für Alle. Als Gegenpol zu den individuellen Privatheitsvorstellungen der Wohnbereiche schafft dieser Handlungsraum einen Ort für gesellschaftliche Ereignisse. Als öffentliches Territorium übernimmt dieser Ort sowohl zentrale als auch dörflich-soziale Funktionen, ist Treffpunkt der Generationen und ein Marktplatz für sozialen Austausch. Das „gemeinsame WIR“ schafft einen Entwicklungsraum für ein kommunikatives Miteinander und zeigt den Mehrwert gesellschaftlicher Ereignisse in einem kooperativen Leben in der Öffentlichkeit. Die Voraussetzungen dafür sind klare territoriale Abgrenzungen, die sowohl durch geplante als auch durch spontane Kontakte ein Umfeld definieren, das zeitlich begrenzt zugänglich ist und die Einhaltung sozialer Regeln erfordert.


Zum Autor:

Arch. Ing. Mag. arch. Andreas Wörndl, MAS

Portrait-Andreas-Woerndl… ist Architekt, studierte Architektur an der Akademie der Bildenden Künste Wien und Management sozialer Innovationen an der Akademie für Sozialmanagement in Wien. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Entwicklung, Planung und Umsetzung von Bauten im Sozial- und Gesundheitswesen. Neben seiner Tätigkeit als Leiter der Projektentwicklung in der Abteilung Landeshochbau beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung unterrichtet er als Lehrbeauftragter an der FH Campus Wien sowie an der Donau-Universität Krems.


Literatur (das Territoriale Lebensraum-Modell):

  • Altman, I. (1970). Territorial behavior in humans: An analysis of the concept. In Pastalan, L. A., & Carson, D. H., Spatial behavior of older people (pp. 1-24). Ann Arbor, MI: University of Michigan Press.
  • Bollnow, O. F. (2010, [1963]). Mensch und Raum (11. Auflage). Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH.
  • Feddersen, E. (2014). raum lernen, raum erinnern, raum fühlen. In Feddersen, E., & Lüdtke, I. (Hrsg.), raumverloren. Architektur und Demenz (14-23). Basel: Birkhäuser Verlag GmbH.
  • Hall, E. T. (1966). The hidden dimension. Garden City, N.Y.: Doubleday.
  • Hall, E. T. (1976). Die Sprache des Raumes. Düsseldorf: Schwann.
  • Kaiser, G. (2012). Vom Pflegeheim zur Hausgemeinschaft. Empfehlungen zur Planung von Pflegeeinrichtungen (2. unveränderte Auflage). Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe.
  • Lyman, S. M., & Scott, M. B. (1967). Territoriality: A neglected sociological dimension. Social Problems, 1967 (15), 236-249.
  • Schultz-Gambard, J. (1990). Dichte und Enge. In Kruse, L., Graumann, C. F., & Lantermann, E. D. (Hrsg.), Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen (339-346). München: Psychologie Verlags Union.
  • Wörndl, A. (2018). Territorien, Konflikte und Raum. Räumliche Konfliktprävention in der stationären Altenhilfe. Akademie für Weiterbildung der FH OÖ und Akademie für Sozialmanagement Wien. Wien Linz. Verfügbar im Internet: https://www.lebensweltheim.at/loginbereich [Zugriff: 20.12.2019].
  • Zumthor, P. (1999). Architektur denken. Basel u.a: Birkhäuser.

Weitere Informationen

https://www.studienverlag.at/buecher/5922/wohnmonitor-alter-2018/
https://www.lebensweltheim.at/fachzeitschrift/bisher-erschienen/heft-83-november-2019